- Literaturnobelpreis 1973: Patrick White
- Literaturnobelpreis 1973: Patrick WhiteDer Australier erhielt den Nobelpreis für seine »epische und psychologische Erzählkunst, mit der ein neuer Erdteil auf der Bühne der Weltliteratur aufgetreten ist«.Patrick White, * London 28. 5. 1912, ✝ Sydney 30. 9. 1990; bis 1925 Schulbesuch in Australien, anschließend an einem College in England, ab 1932 Studium der deutschen und französischen Sprache in Cambridge, im Zweiten Weltkrieg Offizier im Mittleren Osten, 1957 Goldmedaille der Australian Literary Society, 1959 Auszeichnung mit dem W.H. Smith & Son Award, 1975-1976 Mitglied im Order of Australia.Würdigung der preisgekrönten LeistungObwohl White mehrere, international viel beachtete Romane geschrieben hatte, löste 1973 die Verleihung des Nobelpreises an ihn einige Verwunderung aus — nicht nur in Australien, sondern gleichermaßen in Amerika und Europa, wo er bekannter als in seiner Heimat war. Doch wurde allgemein zugestanden, dass eine größere Beachtung des kleinsten Kontinents an der Zeit sei.In der Wahl der Schwedischen Akademie, die die Entwicklung der australischen Literatur bis dahin nicht beachtet hatte, war der Wille zu erkennen, eine stärkere internationale Streuung einzuleiten. Für die Umsetzung dieser Absicht in die Praxis wurde sie allerdings nach Bekanntgabe des Preisträgers in Schweden attackiert. Einige Kritiker monierten, der Autor eines ihrer Meinung nach pornografischen und blasphemischen Romans, des lediglich drei Jahre zuvor veröffentlichten »Der Maler«, solle nicht geehrt werden. Der Schriftsteller, der im Übrigen der Zeremonie nicht beiwohnte, verwendete das mit der Auszeichnung verbundene Preisgeld in Höhe von 310000 DM zur Stiftung des Patrick-White-Preises, der — 1974 erstmals verliehen —, schnell zum höchst dotierten australischen Literaturpreis avancierte.Wie in der Begründung anklingt, wollte die Schwedische Akademie mit der Wahl Patrick Whites gezielt auf einen neuen literarischen Kontinent aufmerksam machen. Als treibende Kraft trat Artur Lundkvist, wichtigster Vermittler fremder Literatur in Schweden, auf, der bereits 1962 White als »großen epischen Erzähler« lobend erwähnt hatte. Whites Werk, so hieß es elf Jahre später, sei gekennzeichnet durch die Beschreibung spezifisch australischen Lebens mit modernistischer Psychologisierung bei vornehmlich tragischer Sicht auf den Kampf zwischen guten und bösen Kräften. Der Schriftsteller liefere eine universal gültige Untersuchung der Bedingungen menschlicher Existenz, er artikuliere das fast Unbeschreibliche, das Vergängliche, das Wesentliche und sei gleichsam ein Pionier der zeitgenössischen Literatur.Wilde Natur, menschliche ExtremzuständePatrick White bedient sich in seinem literarischen Œuvre einerseits souverän der Bewusstseinsstromtechnik, des inneren Monologs, andererseits beeindrucken seine Bücher mit einem meisterlichen Spiel von Leitmotiven und oft auch mit einer komplexen Verschränkung von Zeitebenen. In seinen subtilen Romanen verarbeitete er neben der Schroffheit Australiens und seiner Einwohner insbesondere seine Leiden. Wie ein roter Faden zieht sich die Beschreibung von Zerfall, Zerstörung und Auflösung durch Whites Werk. Doch flackert auch immer wieder sein Sinn für Humor auf.White hatte im Lauf der 1930er-Jahre zwar einige Theaterstücke, Kurzgeschichten und Gedichte verfasst, doch erst mit »Glückliches Tal« begann 1939 seine Laufbahn als Romanschriftsteller, als der er der Nachwelt wohl auch hauptsächlich in Erinnerung bleiben wird.Sein zweiter Roman »The Living and the Dead« (englisch; das Leben und der Tod), den er selbst als »erbärmliches Buch« bezeichnete, erschien 1941. Nachdem er während des Zweiten Weltkriegs in der Royal Air Force gedient hatte, veröffentlichte er 1948 das Epos »Die Geschichte der Tante«, das positive Kritiken in England und den Vereinigten Staaten erhielt, in Australien aber weitgehend ignoriert wurde. Das dort wegen seines befremdenden Intellektualismus und der für den Autor fortan typischen, gebrochenen Syntax attackierte Lieblingswerk Whites präsentiert die Welt aus Sicht der Theodora Goodman, die dem Wahnsinn zum Opfer fällt, der sie — jedenfalls in ihrer Fantasie — zu einem gottähnlichen Wissen und zu höherer Erlösung führt.Enttäuscht über den geringen Erfolg dieses Werks in Australien zog sich der Literat zurück. So dauerte es sieben Jahre, bis sein nächster Roman, »Zur Ruhe kam der Baum des Menschen nie«, erschien. Dieser festigte international Whites Stellung als wichtigster lebender Autor seines Landes und wurde zudem ein Bestseller; in Australien aber lehnten ihn erneut nicht wenige Rezensenten ab. Mit einem Minimum an dramatischer Handlung erzählt der Schriftsteller die Geschichte eines Ehepaars, das in einer anfangs unberührten, später von Sydney eingemeindeten Gegend ein »normales« Landleben führt. Mit der Saga gedachte White — wie er erklärte — »das Außergewöhnliche hinter dem Gewöhnlichen« aufzudecken, während man bei ihm sonst seltsame Menschen und Gegebenheiten findet. In der introvertierten Parabel »Voss« (1957) spielt die Natur ebenfalls eine tragende Rolle. Zudem nimmt die Erforschung der Tiefen der menschlichen Seele hier wie auch im Gesamtwerk Whites einen großen Raum ein. Geschildert wird in dieser fiktionalen Neuinterpretation der historischen Entdeckungsreise des Deutschen Ludwig Leichhardt eine entbehrungsreiche und schließlich für die Titelfigur tödlich verlaufende Expedition in die Wildnis Australiens. In den nun folgenden mittleren Romanen Whites, »Die im feurigen Wagen« (1961), »Die ungleichen Brüder« (1966) und »Der Maler« (1970), liegt der Akzent auf den verklärenden Erfahrungen einsamer Visionäre und Künstler, die der Erleuchtung teilhaftig werden, ohne dass dies ihr Leid milderte. Unter den nach dem Nobelpreis erschienenen Werken ragen das von einer bitteren Ironie geprägte »Die Twyborn Affäre« (1979) und das für viel Aufregung sorgende, autobiografische »Risse im Spiegel: Ein Selbstporträt« (1981) heraus, in dem er sich offen zu seiner Homosexualität bekannte.Eine umstrittene PersönlichkeitObwohl er als größter australischer Autor des 20. Jahrhunderts gilt, erlangte White bis heute keinen sehr hohen Bekanntheitsgrad: nicht in Australien, wo er nie wirklich akzeptiert wurde, und ebenso wenig in Deutschland, wo immerhin Annemarie und Heinrich Böll (Nobelpreis 1971) mit »Zur Ruhe kam der Baum des Menschen nie« eine Übersetzung seines »The Tree of Man« verfassten.Der Asthmatiker White blieb in seiner Heimat auch aufgrund seiner sexuellen Neigungen, seiner unverblümten Kritik an der Oberflächlichkeit der australischen Gesellschaft und wegen der Unkonventionalität seiner Romane zeitlebens eher ein Außenseiter, der nur wenige langjährige Freunde besaß. Doch er bewies stets Courage und machte sich für die Umwandlung Australiens in eine Republik, den Umweltschutz, die Anti-Atomkraft- und die Friedensbewegung stark. Im Alter allerdings verzweifelte er »zunehmend an der Menschheit« und zog sich immer mehr zurück.B. Rehbein
Universal-Lexikon. 2012.